4.0 Naturreligion und westliche Gesellschaft

Tiere wissen, was ihnen schadet. Doch der Mensch hat mit fortschreitender Zivilisation seine instinktiven Kräfte verloren und damit den Einklang mit der Natur, der ihn gesund erhält. Dieses Wissen ist jedoch, wie auch die Psychoanalyse und C.G.Jung erkannten, im Unterbewusstsein verborgen und kann aktiviert werden - beispielsweise durch eine Reise der Selbsterkundung und Trance, die in andere Welten führt. Nichts anderes betreiben die Schamanen, deren Heilkunst zu den ältesten Kulturen der Menschheit gehört. Lange bevor die Naturwissenschaftler erkannten, dass der riesige Kosmos eine Einheit von Energie, Raum und Zeit ist, war dieses Wissen in den alten Kulturen selbstverständlich. Bevor Charles Darwin erkannte, dass Menschen und Tiere aus der gleichen Entwicklung stammen, behandelten Schamaninnen und Schamanen die Wesen Mensch, Tier und Pflanze gleich.

Zwischen Schamanentum und dem uns bekannten Priestertum besteht der Unterschied, dass ein Schamane mit überirdischen Mächten arbeitet, während der Priester sein Amt einer genau festgelegten Ausbildung verdankt. Die Tätigkeit eines Schamanen ist Beruf und Berufung zugleich, das heißt die untrennbare Verbindung von praktischen und geistigen Handlungen. Der Schamane ist nicht nur ein mächtiger Zauberpriester, sondern auch Arzt, Prophet, Namensgeber, Sterbebegleiter, Wettermacher, Künstler und Rechtsanwalt. Er ist eingeweiht in zahlreiche Geheimnisse, hat Kenntnis von übernatürlichen Kräften und kann diese für seine Zwecke nutzen.

Der Schamane ist ein Bindeglied zwischen den Menschen und den Geistern. Zu seinem Handwerk gehört auch das Schlagen der Trommel zur Unterstützung von Meditation und Trance. Der monotone Klang der Trommel unterstützt seine Reisen in die anderen Welten. Ein Schamane ist meist ein hochsensibler Mensch mit seherischen Fähigkeiten, der sehr wohl in der Lage ist, im Geiste weite Reisen zu unternehmen, um seine Schutzgeister um Hilfe und um Rat zu bitten. Der schamanische Glaube beruht darauf, dass alles beseelt ist, vom Blatt über den Stein, bis hin zu den Tieren, Wolken, Winden und Sternen und die Schamanen haben die Fähigkeit, mit diesen »Seelen« zu kommunizieren, und so mit deren Hilfe zu arbeiten.

4.1 Das schamanistische Weltbild

Wir finden bei den verschiedenen Kulturen weltweit eine große Übereinstimmung, was das schamanische Weltbild betrifft. Einmal wird die individuelle Wahrnehmung grob unterteilt in eine so genannte alltägliche Wirklichkeit, wie wir sie normalerweise erleben, und eine nichtalltägliche Wirklichkeit, die Schamanen durch eine Veränderung ihres Bewusstseins erleben.

In der nicht alltäglichen Wirklichkeit finden sich im wesentlichen drei Welten. Dies sind die mittlere, die derjenigen in der alltägliche Wirklichkeit entspricht, in der wir uns bewegen; dann die obere Welt, die Welt des Geistigen, der Lehrer; und schließlich die untere Welt, die Welt der Kraft und der Erde.

Diese unterschiedlichen Welten werden in der Symbolsprache oft durch den Weltenbaum miteinander verbunden. Die Ebenen in der nichtalltägliche Wirklichkeit sind nun insbesondere das Aktionsfeld der Schamanen bei ihrer Arbeit. In die obere Welt reisen sie, wenn es um Weisheit geht, wenn sie ihre Lehrer treffen, um geistige, soziale oder politische Probleme zu lösen. In der unteren Welt treffen sie unter anderem Krafttiere oder Tierfreunden, die ihnen bei Fragen von Gesundheit, Wachstum oder Nahrungsbeschaffung helfen. Die Schamanen wissen, dass jeder Mensch ein Krafttier hat. Dieses verkörpert die Kraft, welche körperlich gesund erhält und bestimmte Eigenschaften gibt. Krafttiere mit ihrer großen Weisheit und Kraft sind sehr wichtige Helfer.

Schamanistische Wurzeln sind auch in der biblischen Tradition nachweisbar: Jonas tauchte mit seinem »Machttier« – dem Wal – in die Unterwelt hinab, die Propheten Istaels zogen sich auf Dauer zurück, fasteten, stiegen in die Obere Welt hinauf und verkündigten dem Volke ihre so gewonnenen Einsichten.

4.2 Die Arbeit eines Schamanen

Schamanen verändern ihr Bewusstsein mittels Trommel, Rasseln, Gesänge, Tänzen oder bewusstseinsverändernden, natürlichen Substanzen. In diesem veränderten Bewusstsein nehmen sie Kräfte, Wesen und Dinge der nichtalltäglichen Wirklichkeit wahr und können mit ihnen in Beziehung treten. Insbesondere sind Reisen in die verschiedenen Welten der nichtalltäglichen Wirklichkeit Hauptbestandteil des Schamanisierens. Die Schamanen tun dies meist zu einem ganz bestimmten Zweck. Es geht vielleicht darum, einem Kranken zu helfen, bei den Tiergeistern um eine erfolgreiche Jagd zu bitten oder bei den Naturkräften um gutes Wachstum zu ersuchen. Für Schamanen sind diese Wesenheiten in der nichtalltäglichen Wirklichkeit genauso real wie diejenigen in der alltäglichen Welt. Schamanen zelebrieren verschiedene rituelle Handlungen, um mit den geheimnisvollen und magischen Kräften der nichtalltäglichen Wirklichkeit in Beziehung zu treten. Zeremonien mit Pfeifen, Federn, Schildern, Kristallen und anderen Steinen oder Kraftgegenständen, Schwitzhütten, Arbeit mit Bäumen etc. kommen dafür in Frage.

Dazu gehören auch Behandlungen von Menschen, in deren Rahmen in der nichtalltäglichen Wirklichkeit Handlungen ausgeführt werden, die in die alltägliche Wirklichkeit reichen und dort Kräfte mobilisieren. Eine weitere wichtige Aufgabe liegt in der Funktion des Bewahrens und Vermittelns von traditionellem Wissen um die Beschaffenheit der Welt. Sie überbringen auch Botschaften aus der Geisterwelt an ihr Volk.

Der eigentliche Schamanismus lässt sich geographisch auf Zentral- und Nordasien sowie zirkumpolare Gebiete Europas und Amerikas begrenzen. Die Gemeinsamkeiten, die der Schamanismus bei den unterschiedlichen Völkern dieser Region zeigt, hebt ihn deutlich von ähnlichen religiösen Erscheinungen Südasiens, Amerikas und Afrikas ab.

In den letzten zwei Jahrhunderten ist der Schamanismus durch das Vordringen von so genannten Hochreligionen schrittweise verdrängt worden, bei den Lappen und vielen sibirischen Völkern durch das Christentum, bei den meisten Turkvölkern durch den Islam und bei den mongolischen Völkern durch den Buddhismus tibetischer Schule. In Sibirien und im Nordosten der VR China sind nur noch sehr wenige echte Schamanen aktiv. Oft zeigen jedoch die von den Völkern jeweils praktizierten »Hochreligionen« mehr oder weniger stark ausgeprägte Überreste schamanistischer Riten oder Vorstellungen. Ein Schamane als Bewahrer des über 45 000 Jahre alten Wissens, wird man durch Geburt ( z.B. Jesus) und/oder Bestimmung; die Ausbildung dauerte Jahrzehnte.

Seit Urbeginn gab es Medizinen bestimmter Menschen, deren Inhalt es war, altes Wissen zu bewahren und weiterzugeben. Die wichtigste Tätigkeit des Schamanen ist die spirituelle Reise in die obere und untere Welt, bei der sich seine Seele in Ekstase bzw. in postekstatischer Ohnmacht vom Körper trennt. Dabei geleitet er die Seelen von Verstorbenen an ihren Bestimmungsort oder er versucht z.B., die entführte Seele eines erkrankten Kindes zurückzuholen. Die Berufung äußert sich zunächst als schwere Krankheit, die nur durch das Einverständnis des Initianden, Schamane werden zu wollen, geheilt werden kann. Die Krisis der Schamanenkrankheit, äußerlich ein Zustand der Ohnmacht oder des Komas, verbunden mit hohem Fieber, Phantasieren, mit Schweiß- und manchmal auch Blutaustritt aus den Hautporen, wird als erste Jenseitsreise erlebt, während der Initiand seine zukünftigen Hilfsgeister kennen lernt.

Nach diesem Erlebnis bessert sich der Gesundheitszustand des Initianden wieder. Seine erste Seelenreise ist beendet, er ist aus dem Totenreich zurückgekehrt und dadurch ein anderer geworden, d.h. die Initiation ist vollzogen. Die darauf folgende Schulung bei einem erfahrenen Schamanen und die abschließende Weihezeremonie sind nur noch formale Elemente, die dazu dienen, den neuen Schamanen in sein Amt einzuführen. In den Schamanenzeremonien und den damit verbundenen Gesängen bringt der Schamane die wesentlichen Elemente der Weltanschauung seines Volkes zum Ausdruck und prägt sie so den Teilnehmern und Zuschauern ein. Bei einigen Völkern finden sich die bedeutendsten Rhapsodien von Epen und Balladen unter den Schamanen.

4.3 War Jesus ein Schamane?

Das Christentum ist darauf aufgebaut, dass Jesus Christus allen Menschen das Heil anbietet und sie durch sein Leiden und Sterben von Sünde und Tod erlöst hat. Es steht fest, dass vieles von dem was von den Medizinmännern gesagt wird, auch auf Jesus von Nazareth zutrifft: Heilende Kraft, Visionen, Heilung und Wandlung des Menschen, Wiederherstellung der Einheit von Gott und Mensch sind Elemente, die im Leben Jesu als zentrale Themen vorkommen.

Jesus hatte zu Beginn seines Wirkens eine Vision, die ihm die innigste Nähe zu Gott aufzeigte. Er wusste das er Gottes Sohn sei. Dazu ging er in die Wüste, setzte sich der Stille, dem Fasten und den wilden Tieren aus. Jesus hat die Botschaft vom guten Gott nicht nur in Worten gesagt, sondern sie unmittelbar ausgestrahlt. Bevor Jesus dem Gelähmten zum Aufstehen auffordert, vergibt er ihm die Sünden. Sünde ist ein anderes Wort für Störung der Harmonie mit Gott. Das Zentrale Thema in den Evangelien, ist der Glaube. Glaube lässt sich so umschreiben: Es öffnet sich ein Raum zwischen Jesus und den Menschen wo Leidende, Suchende und Bedrückte aufatmen und sich wohl fühlen, sich eins mit Gott und Gottes Sohn fühlen.

Nach der Heilung des Taubstummen und des Gelähmten und vielen anderen wunderbaren Ereignissen, sagt Jesus »Dein Glaube hat dir geholfen.« Glaube ist auf diesem Hintergrund ein sich anstecken lassen von der Zuversicht, Sicherheit und Kraft Jesu. Der Meister aus Nazareth war kein Wegbegleiter der Selbstsicheren und der Satten, der Alleswisser und Alleserklärer, aber er hatte sehr guten Kontakt zu Menschen auf den Schattenseiten des Lebens, zu jenen, die in den Evangelien als Sünder, Zöllner und Dirnen angeführt sind. Was Jesus mit den Menschen anstrebt ist die bewusste Auseinandersetzung mit Angst, Einsamkeit, Tod und mit den Gewalten, über die nicht wir sondern die uns bestimmen. Daher sollten wir die Dokumente des Glaubens des frühen Christentums verstehen lernen.

4.4 Schamanismus heute

Neben dem traditionellen Schamanismus, der auch heute noch in einigen Kulturen ausgeübt wird, entwickelt sich ein neuer Schamanismus in Kulturen, in welchen dessen Wurzeln längst vergessen sind. Hier gilt es nun zu bedenken, dass wir wesentliche Aspekte der schamanischen Praxis von Völkern geschenkt bekommen haben, welche wir, die wir uns als zivilisiert bezeichnen, jahrhundertelang unterdrückt haben. Viele Menschen haben heute ihre Wurzeln verloren. Ihre Wurzeln zur Natur, zum körperlichen Ursprung, zu Kraft, zur Mutter Erde und auch zu den geistigen Welten.

Diese Menschen sind kurzsichtig geworden. Sie sehen nicht mehr mit den »Augen des Herzens«. Man könnte sagen, sie leben oberflächlich. Ihre Wahrnehmungen beziehen sich nur noch auf Oberflächen. Ihre Beziehung zur Welt haben sie auf die Oberfläche des Fernsehbildschirms reduziert; die Beziehung zur Nahrung auf das Aussehen von künstlich veränderten, kunststoffverpackten Materialien; diejenigen zu Tieren auf Haut, Pelz und Fleisch, und die Beziehung zum eigenen Körper auf modediktierte Haut- und Textiloberflächen. Das eigentliche Wesen des Menschen unter der Oberfläche wird nur noch mangelhaft ernährt, sucht aber verzweifelt nach Nahrung. Dadurch entsteht Sucht und Krankheit. Da solche Menschen sich von anderen Menschen getrennt glauben, entstehen Abgrenzung und Aggression. Ebenso führt das Gefühl, von der übrigen Umwelt getrennt zu sein, zu umweltzerstörendem Handeln.

Die Welt schamanisch zu erfahren, verbindet die Menschen mit ihren Wurzeln, mit der Erde und mit dem Geist. Ihre Sicht erweitert sich, ihr Gefühl vertieft sich und sie erkennen die Wesen unter den Oberflächen. Sie fühlen wieder klar ihre Verbindungen mit anderen Welten und mit der Mitwelt und sie werden dadurch friedlicher im Umgang mit allem, was lebt. Durch schamanische Arbeit wird es den Menschen möglich, Frieden in sich selbst zu finden und so können sie in Frieden mit den Ihren leben. Das ist die Voraussetzung, damit zwischen Völkern Friede herrscht und die Menschenwesen Frieden schließen mit der Mitwelt und der Erde. So können sich die Menschen wandeln und von »Parasiten im Weltgefüge« wieder zum »achtsamen Mitglied im großen Kreis von allem Lebendigen« werden.

In einer modernen westlichen Gesellschaft ist ein traditioneller Schamanismus nicht zu praktizieren. Die Zwänge des gesellschaftlichen Lebens, die Ausübung eines Berufes, die Vereinzelung der Gesellschaft, die nicht mehr vorhandenen sozialen Strukturen und die Entfremdung zur Natur lassen Schamanismus nur wenig Raum. Da die Menschen aber zunehmend den tiefen Wunsch nach einer Spiritualität, in Einheit mit der Natur und ihren eigenen Bedürfnissen verspüren, andererseits echter Schamanismus nicht praktikabel erscheint, wandten sie sich den evolutionierten Formen des Schamanismus zu. Eine dieser Formen ist WICCA. Aber das ist eine andere Geschichte, bzw. ein eigener Beitrag.

Auszüge einer Ausarbeitung von Gabriele Kropf (8FKB 2002/2003).

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