2.0 Die Weisheit des Brahmanen
Wenn die Sonne hinter den Hügeln zu Grabe gegangen, wacht
Nacht um Nacht ein grausiger Schreckensruf auf und flieht vor den
haschenden Händen des Windes wie ein gescheuchtes blindes Tier
der Finsternis aus dem Dschungel herüber zum Kloster. Unaufhörlich,
ohne die Stimme zu senken, ohne die Stimme zu erheben, ohne Atem
zu holen, ohne leiser und ohne lauter zu werden. »Es ist die
Maske Madhu des Dämons, die uralte, riesenhafte, die steingemeißelte,
halbversunkene, die in den Sümpfen der Wildnis weiß mit
leeren Augen aus den faulen Wassern starrt«, – hatten
die Mönche geraunt – hatten die Mönche geraunt.
Er kündet die Pest, – Madhu der Dämon! Und angsterfüllt
war der Maharaja nach Norden geflohen mit seinem Gefolge. »Wenn
die Swamijis kommen, die heiligen Pilger, zur Feier des Festes des
Bãla Gopãla und dieses Weges ziehen auf ihrer Fahrt,
wollen wir fragen, warum die steinerne Maske in den Dschungeln nachts
durch die Finsternis schreit«, – hatten da die Einsiedler
beschlossen. Und am Vorabend Bãla Gopãla waren die
Swamijis die schimmernde Straße gezogen gekommen, schweigend,
die Blicke gesenkt, – im trüben Mönchsgewand, –
wie wandernde Tote – wie wandernde Tote. Vier Männer,
die die Welt von sich geworfen hatten. Vier freudlose Leidlose,
die die Bürde der Erregung von sich geworfen hatten. Der Swami
Vivekananda aus Trevandrum. Der Swami Saradananda aus Shambhala.
Der Swami Abhedananda aus Mayavati. Und ein vierter, uralter, aus
der Kaste der Brahmanen, dessen Namen niemand mehr kannte –
aus der Kaste der Brahmanen, dessen Namen niemand mehr kannte. Sie
hatten das Kloster betreten zur Rast, und geruht dort wachsam und
bezähmten Sinnes von Abend bis Morgen. Und als der Tag versunken
war, hatte wieder der Wind den heulenden Schrei des Steingesichtes
herübergeweht wie grausige Botschaft – wie grausige Botschaft.
Den heulenden Schrei, den unaufhörlichen, den nicht ansteigenden
und nicht abfallenden, den unaufhörlichen – atemlosen.
Um die Zeit der ersten Nachtwache hatten die Einsiedler da den ehrwürdigen
Brahmanen, dessen Namen niemand mehr kannte und der so alt war,
dass Vishnu selber das Jahrhundert seiner Geburtsstunde vergessen
hatte, dreimal von links umwandelt und dann nach der Ursache gefragt,
die den Dämon, den riesenhaften, aus den Sümpfen weiß
emporragenden, bewege, durch die Finsternis zu schreien. Der Ehrwürdige
aber hatte geschwiegen – aber hatte geschwiegen. Wiederum
zur Zeit der zweiten und dritten Nachtwache hatten die Mönche
je dreimal den Verehrungswürdigen von links umwandelt und dann
gefragt, warum des Nachts das steinerne Antlitz seinen Schreckensruf
durch die Wildnis sende. Und abermals und abermals hatte der Verehrungswürdige
geschwiegen. Als aber um die vierte Nachtwache die Einsiedler den
Ehrwürdigen dreimal von links umwandelt und gefragt hatten,
öffnete er seinen Mund und sprach: »Nicht, ihr Einsiedler,
ist es jener Madhu, mit der Maske aus weißem Felsen gemeißelt,
der da schrie ohne Unterlass. Wie sollte es denn, ihr Einsiedeler,
jener Dämon sein?! Und nicht wird jener Klagelaut den Tag über
durch die Sonne zum Schweigen gebracht. Wie sollte denn, ihr Einsiedler,
jener Klagelaut den Tag über durch die Sonne zum Schweigen
gebracht werden?! Bricht die Nacht herein, so wacht der Wind auf
und weht von den Ufern der Sümpfe über die Wildnis und
über die Wasser und trägt den Schall des Klagerufes her
zum Kloster Santokh-Das – her zum Kloster Santokh-Das. Der
Klageruf aber tönt von Abend bis Morgen und von Morgen bis
Abend – ohne Unterlass – aus dem Munde eins Büßers,
der der Erkenntnis entbehrt, – der der Erkenntnis entbehrt.
Niemand sonst, ihr Einsiedler, wüsste ich, der dort schrie
– der dort schrie.« Also sprach der Verehrungswürdige.
Die Mönche aber warteten, bis sich das Fest des Bãla
Gopãla gejährt, und baten sodann den Brahmanen, den
uralten, dessen Namen keiner mehr kannte, dass er den Büßer
beruhigen möge. Und der Ehrwürdige erhob sich schweigend
und wanderte im Morgengrauen zu den faulen Wassern hin. Der klirrende
Bambus schloss sich hinter seiner Gestalt, wie die Zähne der
Silberkämme sich schließen, wenn die Tänzerinnen
des Königs ihr langes Haar lösen. Weithin durch das Dickicht
weiß schimmert die Maske Madhu des Dämons und zeigt dem
Weisen den Weg. Halbversunken – das Antlitz zum Himmel starrend
– die Augen leer. Und der offene Mund – eine steinerne
Grotte – haucht die eisige Luft der Felsenhöhlen empor.
Wie lebender Dampf steigt Sumpfdunst aus den brütenden Wassern
und rieselt von dem kalten Steingesicht zurück in glitzernden
Tropfen – in glitzernden Tropfen. Von den leeren Augäpfeln
rinnt es nieder und furcht das glatte, gemeißelte Antlitz,
dass es langsam schmerzlich die Mienen verzerrt von tausend zu tausend
Jahren. So weint Madhu der Dämon, – weint Madhu der Dämon.
Und auf seiner Stirne perlt der Todesschweiß mittags, wenn
die Wildnis glüht – mittags, wenn die Wildnis glüht.
Da sah der Brahmane in einer Lichtung – den rechten Arm steif
vorgestreckt – einen nackten Büßer stehen, und
der schrie laut vor Schmerz. Unablässig, ohne einen Augenblick
auszusetzen, ohne Atem zu schöpfen und ohne die Stimme sinken
zu lassen. Abgezehrt war er, dass seine Rückgratwirbel einem
geflochtenen Zopfe glichen, seine Schenkel Stäben aus knorrigem
Holz – – und seine Augen – eingesunken –
schwarzen getrockneten Beeren – schwarzen getrockneten Beeren.
Die Hand des vorgestreckten Armes aber umkrampfte eine schwere eiserne
Kugel mit Stacheln besetzt, und je mehr die Finger sie pressten,
um so tiefer drangen die Spitzen ins Fleisch – Spitzen ins
Fleisch. Fünf Tage wartete da regungslos der Brahmane, und
als der Asket auch nicht einen Augenblick – so lange wie ein
kräftiger Mann Zeit gebraucht hätte, die Schultern zu
heben und die Schultern wieder zu senken – aufhörte,
vor Schmerzen zu schreien, umwandelte er ihn dreimal von links.
– Dann blieb er an seiner Seite stehen. »Pardon, mein
Herr«, sagte er sodann zu dem Büßer, – »pardon,
mein Herr«, – und hüstelte diskret – »welcher
Umstand mag es wohl sein, der Sie veranlasst, Ihrem Schmerze rastlos
Ausdruck zu verleihen? – ehüm, rastlos Ausdruck zu verleihen?«
– Schweigend wies der Büßer mit den Blicken auf
die Stachelkugel in seiner Hand. Da verfiel der Weise in tiefes
Staunen. Sein Geist tauchte hinab in den Abgrund des Seins und des
Reiches der Ursachen und verglich die Dinge, die da kommen werden,
mit denen, die längst gestorben sind. Der Sinn und der Wortlaut
der Reden zog an seinem Gedächtnis vorüber, er aber fand
nicht, was er suchte. Immer tiefer versenkte er sich und es schien,
als sei im Grübeln sein Herzschlag gestorben und der flutende
ebbende Atem erloschen – flutende, ebbende Atem erloschen.
Die Gräser der Sümpfe wurden braun und welkten dahin;
der Herbst kam und rief die Blumen heim, und die Haut der Erde schauerte
– Haut der Erde schauerte. Und immer noch stand der Brahmane
in tiefstem Sinnen. Der tausendjährige Molch war aus dem Sumpfe
gekrochen, hatte auf ihn gewiesen mit gesprenkeltem Finger und dem
Ohrenhöhler und seiner Frau zugeraunt: »O, ihn kenne
ich wohl, uralt ist er und von unendlicher Weisheit, der verehrungswürdige
Swami. Im Mittelpunkt der Erde, der meine Heimat ist, habe ich seinen
Impfschein gelesen, den vergilbten, und weiß seinen Namen
und Stand genau: Der landesfürstliche Normalbrahmane a. D.,
der ehrwüdidige Swami Heng-Tsen-Cha-Uph’ Allemitananda
aus KoShirsh ist es – aus Ko-Shirsh ist es.« Das hatte
der tausendjährige Molch dem Ohrenhöhler und seiner Frau
zugeflüstert und hatte dann beide gefressen. Der Weise aber
war aufgewacht. Und zu dem Asketen gewandt, sprach er gemessen:
»La–la–lassen Sie die Kugel fallen, mein Herr!«
Und wie der Büßer die Hand öffnete, rollte die Kugel
zur Erde, und einen Augenblick später war der Schmerz erloschen.
Juch–hu aber jodelte der Büßer, und freudig erregt
und ledig der Pein entfernte er sich in Hechtsprüngen –
entfernte er sich in Hechtsprüngen.
Quellenhinweis: Gustav Meyrink, Des Deutschen Spießers Wunderhorn,
Gesammelte Novellen, Langen Müller, 1982.
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