› Islam - Im Namen Allahs

1.0 Glaube und praktischer Geist

Die Gläubigen kamen in Scharen, um die Worte des Propheten zu hören. Ein Mann hörte besonders aufmerksam zu, betete mit gläubiger Inbrunst und verabschiedete sich schlißlich vom Propheten, als es Abend wurde. Aber kaum war er drußen, kam er wieder zurückgerannt und schrie mit sich überschlagender Stimme: »Oh, Herr! Heute morgen ritt ich auf meinem Kamel zu dir, um dich, den Propheten Gottes, zu hören. Jetzt ist das Kamel nicht mehr da. Weit und breit ist kein Kamel zu sehen. Ich war dir gehorsam, achtete auf jedes Wort deiner Rede und vertraute auf Gottes Allmacht. Jetzt, oh Herr, ist mein Kamel fort. Ist das die göttliche Gerechtigkeit? Ist das die Belohnung meines Glaubens? Ist das der Dank für meine Gebete?« Mohammed hört sich diese verzweifelten Worte an und antwortete mit einem gütigen Lächeln: »Glaube an Gott und binde dein Kamel fest.«

2.0 Das Hemd des glücklichen Menschen

Ein Kalif lag sterbenskrank in seinen seidenen Kissen. Die Hakinus, die Ärzte seines Landes, standen um ihn herumund waren sich einig, dass nur eines dem Kalifen Heilung und Rettung bringen kann: das Hemd eines glücklichen Menschen, das dem Kalifen unter den Kopf gelegt werden müsse. Boten schwärmten aus und suchten in jeder Stadt und in jeder Hütte nach einem glücklichen Menschen. Doch alle, die sie nach ihrem Glück fragten, hatten nur Kummer und Sorgen. Endlich trafen die Boten, die ihre Hoffnung schon aufgeben wollten, einen Hirten, der lachend und singend seine Herde bewachte. Ob er glücklich sei? »Ich kann mir niemanden vorstellen, der glücklicher ist als ich«, antwortete der Hirte lachend. »Dann gib uns dein Hemd«, riefen die Boten. Der Hirt aber sagte: »Ich habe keins«. Diese dürftige Botschaft, dass der einzige glückliche Mensch, den die Boten trafen, kein Hemd hatte, gab dem Kalifen Anlass nachzudenken. Drei Tage und Nächte ließ er niemanden zu sich kommen. Am vierten Tag schließlich ließ er die seidenen Kissen und seine Edelsteine unter dem Volk verteilen, und wie die Legende erzählt, war der Kalif von diesem Zeitpunkt an wieder gesund und glücklich.

3.0 Mut zur Wahrheit

Als Mohammed auf der Flucht war und man überall nach ihm suchte, kam Ali, sein Schwiegersohn auf den rettenden Einfall: Er versteckte den Propheten in einem hohen Tragekorb, lud sich diese schwere Last auf den Kopf und balancierte sie zwischen den Wachen des Stadttores hindurch. »Was hast du in dem Korb?« fragte ih n streng ein Zöllner. »Mohammed den Propheten«, antwortete ihm Ali. Die Wachen, die diese Wahrheit für eine schlagfertige Frechheit hielten, lachten und ließen Ali und den Propheten im Korb passieren.

4.0 Die Schale des Derwischs

Es war ein König, der wollte einem herumziehenden Derwisch einen Wunsch erfüllen. Der Derwisch willigte schließlich ein und wünschte, dass ihm seine Schale mit Goldmünzen gefüllt würde. Der König sagte: »Nichts leichter als das.« Und er begann die Goldmünzen einzufüllen. Doch die Tasse wurde nicht voll, je mehr Münzen hineingesteckt wurden, desto leerer schien sie zu werden. Der König war schon ganz entmutigt, und der Derwisch sagte zu ihm: »Eure Majestät, wenn ihr dies kleine Schale nicht füllen könnt, müsst ihr es nur sagen. Dann nehme ich meine Schale zurück und gehe. Nur ist es schade, dass ihr dann Euer Wort nicht gehalten habt.« Und der König ließ alles Gold bringen und große Schätze, doch all sein Besitz konnte die Schale des Derwischs nicht füllen. Schließlich gab der König auf und fragte den Derwisch: »Sagt mir, was ist das Geheimnis dieser Schale?« Und der Derwisch antwortete: »Diese Schale ist das menschliche Herz, das niemals zufrieden ist, was man ihm auch gibt, sei es Wohlstand, Wissen, Ruhm, Liebe. Was auch immer man hineinsteckt, es wird nicht voll werden, denn es ist nicht dazu bestimmt, gefüllt zu werden. Doch da der Mensch dieses Geheimnis des Lebens nicht kennt, ist er ständig auf der Suche, ohne, dass er jemals Erfüllung erlangt.«

5.0 Was wirst du mitnehmen können?

Als der Meister Schamseddin von Täbriz einmal in das Haus seines Schülers Rumi kam, der ein angesehener Gelehrter und Theologe war, arbeitete dieser gerade an einem Manuskript. Schamseddin nahm sogleich das Manuskript und warf es fort: »Hast du nicht bereits genug studiert und gelesen? Studiere jetzt das Leben anstelle von Büchern.« Rumi schaute ihn verwundert an. Und Schamseddin erklärte: »All diese Dinge, die so wichtig schienen, welche Bedeutung haben sie an dem Tag, wo du sterben musst? Was bedeuten Gelehrtsein, Ansehen und eine gute Stellung dann? Was wirst du mitnehmen können? Wenn du diese Frage wirklich löst, wird sie dich in die Ewigkeit führen. Die Probleme dieser Welt, ob du sie nun klärst oder nicht, nehmen niemals ein Ende. Darum frage dich aufrichtig, was du von Gott und vom Menschen wahrhaftig verstanden hast.« Diese Worte trafen Rumi mitten ins Herz und brachten ihn wirklich auf den Weg zu Gott.

6.0 Wo wohnt Gott?

Hazrat Bastami, ein großer Sufimeister Indiens, begab sich, als er noch jung war, auf Pilgerreise nach Mekka. Unterwegs begegnete er einem wandernden Derwisch, der ein Meister mit tiefer Verwirklichung zu sein schien. Bastami suchte ein Gespräch mit ihm, und der Derwisch fragte ihn: »Wohin gehst du?« »Ich mache eine Pilgerfahrt nach Mekka.« »Warum?« »Weil ich auf der Suche nach Gott bin.« »Warum suchst du Gott in Mekka? Du wirst den heiligen Stein umkreisen, und was wirst du erlangen? Ich will dir ein Geheimnis verraten. Gott wohnt nicht in Mekka und hat seit seiner Erbauung auch nie dort gewohnt. Gott hat das menschliche Herz, dein Herz, seitdem du geboren wurdest nie verlassen. Darum geh nach Hause und meditiere.«

7.0 Schocktherapie

Ein Mann machte Meister Bahaudin seine Aufwartung und bat ihn: »Bitte helft mir in der Bewältigung meiner Probleme und führt mich auf den Weg der Wahrheit.« Bahaudin erwiderte barsch: »Es ist das beste, wenn ihr alle religiösen Studien aufgebt und sofort mein Haus verlasst.« Der Mann erbleichte und verließ zutiefst betroffen das Haus. Ein Besucher, der bei dem Vorfall anwesend war, hielt dem Meister vor: »War dies nicht eine allzu harte Behandlung? Womit hat dieser ehrbare Mann solche Abweisung verdient?« In diesem Augenblick verirrte sich ein Vogel ins Zimmer und flatterte hin und her. Bahaudin sagte zu dem Gast: »Schau, hier haben wir die Antwort auf deine Frage.« Dann saß er schweigend da und wartete. Als der Vogel sich in der Nähe des offenen Fensters niederließ, schlug er plötzlich die Hände zusammen, und der Vogel flog geradewegs in die Freiheit hinaus. Der Meister lächelte seinen Bekannten an: »Für den Vogel war das Klatschen meiner Hände sicherlich ein großer Schreck, nicht wahr? Aber hat dieser Schreck ihm nicht auf dem schnellsten Weg in die Freiheit verholfen?«

8.0 Die Gegenwart des Meisters

Ein Man kam zu einem Meister und sagte: »Ich möchte gern Euer Schüler werden.« Und der Meister antwortete: »Ja, ich bin sehr glücklich darüber.« Dies überraschte den Mann, denn er hatte gedacht, dass er aufgrund seiner vielen Fehler bestimmt nicht angenommen würde. Darum sagte er: »Aber ich frage mich, ob ihr wisst, wie viele Fehler ich habe.« Der Meister lachte: »Ich kenne bereits deine Fehler, doch ich nehme dich trotzdem als Schüler an«. »Aber ich habe sehr schlimme Fehler. Ich spiele gern, und ich betrinke mich öfter mal.« »Ah, das macht nichts.« »Aber ich habe noch andere Fehler«, sagte der Mann. Der Meister entgegnete: »Das stört mich nicht. Doch jetzt, wo ich all deine Fehler akzeptiert habe, musst du eine Bedingung von deinem Lehrer akzeptieren.« Da der Mann bereitwillig zustimmte, fuhr der meister fort: »Du magst dich deinen Fehlern hingeben, doch nicht in meiner Gegenwart. Nur soviel Respekt solltest du deinem Lehrer gegenüber bewahren.« Dieser Vorschlag gefiel dem Schüler sehr, und glücklich ging er nach Hause.
Als er jedoch das nächste Mal zum Spielen ging, sah er das Gesicht seines Meisters vor sich, und er konnte nicht spielen. Und wie er sich wieder einmal betrinken wollte, erging es ihm genauso, und er ließ davon ab. Immer wenn er einen Fehler begehen wollte, sah er das Gesicht des Meisters vor sich. Nach einer Weile kehrte er zu seinem Meister zurück, und der fragte ihn lächelnd: »Na, hast du irgendeinen Fehler begangen?« Er antwortete: »Oh nein, es ging nicht! Immer wenn ich einen meiner üblichen Fehler begehen will, verfolgt mich mein Meister.«

9.0 Nasreddin lässt sich heimtragen

An einem hellen Sommertag war Nasreddin nach einem Spaziergang auf eine Wiese gekommen, die ihm so schön erschien, wie er noch keine gesehen hatte. Wohin sein Auge sah, erblickte er leuchtende Blumen. Darüber schaukelten bunte Schmetterlinge und summte des Heer der fleißigen Bienen.
»Hier ist gut rasten!« dachte der Hodscha und ließ sich im Schatten eines Strauches ins Gras nieder. Behaglich legte er sich zurück, schloss die Augen und begann sanft einzuschlummern.
Er mochte schon eine gute Weile geschlafen haben, als sich seinem Platz zwei Männer näherten. Es waren Bauern, die in Nasreddins Nachbardorf daheim waren. Sie klagten laut über die Hitze, die ihre Ernte in Gefahr brachte.
Der Hodscha war wohl bei dem Klang ihrer Stimmen wach geworden, da er aber so bequem lag, beschloss er, sich nicht stören zu lassen, und tat weiter so, als ob er schliefe.
»Sieh nur, Ali!« unter brach einer der Männer das Gespräch. »Dort liegt ein Mann in deiner Wiese!«
»Wahrhaftig!« rief der zweite zornig. »Er schläft! – Wir wollen ihn sogleich aufwecken und aus der Wiese jagen, ehe er das schöne Gras verdirbt!«
Sie traten an den Schläfer heran und rüttelten ihn an der Schulter. Der aber machte keine Mine, zu erwachen. Da sahen die Männer einander erschreckt in die Augen.
»Er ist tot!« flüsterte der eine.
»Aber - das ist doch Nasreddin!« rief plötzlich der andere, nachdem er genauer hingesehen hatte. Und dann berieten sie leise, was sie nun weiter zu tun hätten.
Der Hodscha aber blieb noch immer steif und unbeweglich. Er beschloss abzuwarten, was die beiden unternehmen würden. »Hier kann er nicht bleiben«, sagte der Mann, der sich Ali nannte, »obgleich ich ihm das stille Plätzchen auf meiner Wiese von Herzen gönnte. – Komm, Jussuf, wir wollen ihn in sein Haus trage!«
Sie zogen ihre Messer, schnitten Äste und Laubwerk von den nächsten Bäumen und verflochten sie geschickt mit Stricken zu einer Tragbahre. Alsdann hoben sie den Schlafenden vorsichtig darauf.
Der Hodscha ließ es still geschehen und freute sich, dass die Männer ein so gutes und hilfreiches Herz hatten.
Nun fassten die beiden die Bahre an ihren Griffen und trugen sie ernst und schweigsam die Straße dahin.
Nachdem sie eine Weile so gegangen waren, brach endlich Ali das Schweigen. »Es ist ein weiter Weg nach Akschehir!« sagte er. »Wir werden Nasreddins Haus kaum vor dem Abend erreichen!«
»Da hast du recht«, nickte Jussuf. »Aber wir wollen die Straße verlassen und den Fluss überschreiten. Ich weiß eine Stelle, an der das Wasser kaum an das Knie reicht. Dort könne wir durchwaten und uns damit einen weiten Umweg ersparen.«
Ali war mit dem Vorschlag seines Gefährten einverstanden. So bogen sie von der Straße ab und schritten an das Ufer des Flusses. Schon schickte sich Jussuf an, in das Wasser zu steigen, als Nasreddin auf der Bahre sich plötzlich aufrichtete.
»Haltet ein, ihr Unvorsichtigen!« rief er warnend. »Die Furt, an der ihr den Fluss gefahrlos überschreiten könnt, befindet sich doch fünfzig Schritte weiter stromaufwärts! Wenn ihr hier ins Wasser steigt, kann es unser aller Tod sein!«
Auf diesen Anruf erschraken die Männer so sehr, dass sie die Bahre mit dem Hodscha zur Erde fallen ließen. Dann aber schrien sie wild auf ihn ein, dass er sie mit seinem Tode zum besten gehalten habe.
Der Hodscha ließ sie schelten und toben und hörte ihnen lächelnd zu. »Warum seid ihr gegen mich so aufgebracht?« sagte er endlich, nachdem ihnen der Atem ausgegangen war. »Wäre euch am Ende der tote Nasreddin lieber als der lebende...? Ach, wenn ihr den lebenden Menschen nur halb so viel Güte erweisen wolltet, als ihr den Verstorbenen schenkt - die Welt wäre ein Paradies!«
Da neigten die Männer beschämt ihr Haupt und baten den Hodscha, wieder auf der Bahre Platz zu nehmen. Sie seine bereit, ihn auch lebend nach Hause zu tragen.

10.0 Als das Wasser ausgetauscht wurde

Einst wandte sich Khidr, der Lehrer des Mose, mit einer bestimmten Warnung an die Menschheit. An einem bestimmten Tag, so sagte er, werde alles Wasser der Welt, das nicht auf eine bestimmte Weise gesammelt wurde, verschwinden. Es werde dann jedoch durch ein anderes Wasser ersetzt, das den Menschen verrückt macht.
Nur ein einziger Mann erkannte die Bedeutung dieses Rats und ging daran, ihn zu befolgen. Er sammelte Wasser, lagerte es an einem sicheren Ort und wartete darauf, dass das Wasser sich verändere.
Zur angekündigten Frist hörten die Flüsse auf zu fließen und die Brunnen trockneten aus. Als der Mann sah, wie sich dies alles ereignete, ging er zu der geheimen Stätte und trank von dem Wasser, das er gerettet hatte.
Von der sicheren Zuflucht aus bemerkte er, dass die Wasserfälle wieder zu strömen begannen, und er stieg zu den anderen Menschenkindern hinab. Der Mann stellte fest, dass sie völlig anders dachten und sprachen als früher. Sie erinnerten sich weder an das, was sich zugetragen hatte noch daran, dass sie gewarnt worden waren. Als er versuchte, mit ihnen zu sprechen, musste er feststellen, dass sie ihn für verrückt hielten. Auch zeigten sie sich ihm gegenüber feindselig oder mitleidig, oder verstanden ihn nicht.
Anfangs trank er nicht von dem neuen Wasser, sondern kehrte jeden Tag zu seinem Versteck zurück, um sich zu versorgen. Indessen entschloss er sich am Ende doch, von dem neuen Wasser zu trinken, weil er die Einsamkeit nicht mehr ertragen konnte, dieses Leben, in dem er sich anders benahm und so anders dachte als alle anderen. Er trank das neue Wasser und wurde genauso wie die anderen Menschen. Da vergaß er schließlich auch völlig den eigenen geheimen Wasservorrat, und seine Mitmenschen betrachteten ihn bald als einen, der verrückt gewesen war, aber auf wunderbare Weise seine geistige Gesundheit wieder erlangt hatte.

11.0 Die Geschichte vom Feuer

Es war einmal ein Mann, der tief über das Wirken und die Wirkungen der Natur nachdachte, und dank seines Nachdenkens und der Nutzanwendung entdeckte er, wie man Feuer machen kann.
Dieser Mann hieß Nour. Er entschloss sich, von einem Volk zum anderen zu wandern und den Leuten seine Entdeckung zu bringen. Nour überbrachte vielen Völkern das Geheimnis. Einige machten Gebrauch von dem Wissen. Andere scheuchten ihn fort, noch bevor sie überhaupt verstehen konnten, wie wertvoll diese Entdeckung für sie sein könnte. Sie meinten, der Mann sei gefährlich. Schließlich kam er zu einem Volk, das in derartige Panik geriet, als er das Feuer vorführte, dass die Menschen ihn ergriffen und töteten, überzeugt er sei ein Dämon.
Jahrhunderte vergingen. Bei dem ersten Volksstamm, der das Feuermachen gelernt hatte, blieb das Geheimnis den Priestern vorbehalten. Sie standen in Reichtum und Macht, während das Volk ein hartes Leben führte.
Der zweite Stamm vergaß die Kunst und betete statt dessen die Gerätschaften an. Der dritte betete zu einem Bild des Nour, weil er es war, der sie unterwiesen hatte. Der vierte bewahrte die Geschichte vom Feuermachen in seinen Legenden: Einige glaubten daran, andere nicht. Das fünfte Volk machte sich das Feuer tatsächlich zunutze und war dadurch in der Lage, sich zu wärmen, Speisen zu kochen und alle möglichen nützlichen Dinge herzustellen.
Viele, viele Jahre später reiste ein weiser Mann mit einer kleinen Schar von Schülern durch die Länder dieser Volksstämme. Die Schüler waren überrascht von der Vielfalt der Rituale, die sie vorfanden; und sie sagten übereinstimmend zu ihrem Lehrer: »Aber all diese Sitten stehen im Grunde genommen mit nichts anderem als dem Feuermachen in Zusammenhang. Wir sollten die Leute aufklären.«
Der Lehrer antwortete: »Nun gut! Reisen wir noch einmal dorthin. Am Ende werden diejenigen, die es überleben, die wahre Aufgabe kennen und wissen, wie man es anpackt.«
Als sie zu dem ersten Volksstamm kamen, wurde die kleine Schar gastfreundlich empfangen. Die Priester luden die Reisenden ein, an der religiösen Zeremonie des Feuermachens teilzunehmen. Als das Volk dann durch das Ereignis, dem es beiwohnte, in einen Zustand der Erregung versetzt war, sagte der Meister zu seinen Schülern: »Möchte einer von euch etwas dazu sagen?«
Der erste sagte: »Um der Wahrheit willen fühle ich mich gedrängt, die Leute aufzuklären.«
»Wenn du das unbedingt tun willst, so tue es«, sagte der Meister, » - aber auf eigenen Gefahr!«
Da trat der Schüler vor den Häuptling und die Priester und sagte: »Auch ich kann das Wunder vollbringen, von dem ihr euch einbildet, es sei irgendeine Manifestation der Gottheit. Wenn ich es euch vorführe, werdet ihr dann einsehen, dass ihr seit vielen Jahren in einem Irrtum lebt?«
Aber die Priester riefen: »Packt ihn!« - der Mann wurde ergriffen, und man hat ihn nie wieder gesehen.
Die Reisenden wanderten ins nächste Land, zu dem zweiten Stamm, jenen Leuten, die die Gerätschaften des Feuermachens anbeteten. Wieder wollte einer der Schüler aus freien Stücken das Volk zur Vernunft bringen.
Mit dem Einverständnis des Meisters sagte er: »Erlaubt mir, dass ich zu euch als zu vernünftigen Menschen spreche. Ihr betet Mittel an, mit denen man etwas tun kann, nicht aber die Sache selber. Dadurch schiebt ihr das Erscheinen dieser so nützlichen Sache hinaus. Ich aber kenne die Wahrheit, die eurer Zeremonie zugrunde liegt.«
In diesem Volk gab es nun vernünftigere Leute. Aber sie sagten dem Schüler: »Als Reisender und Fremdling bist du in unserer Mitte willkommen. Jedoch als Fremder, der unsere Geschichte und unsere Bräuche nicht kennt, kannst du nicht verstehen, was wir tun. Du irrst. Vielleicht versuchst du sogar, uns unsere Religion wegzunehmen oder sie zu ändern. Wir wollen dich deshalb nicht anhören.«
Die Wanderer setzten ihre Reise fort.
Dann kamen sie in das Land des dritten Stammes, und dort sahen sie, dass vor jeder Behausung ein Götzenbild stand, das den Nour darstellte, den ursprünglichen Feuerbringer. Der dritte Schüler sprach den Häuptling an und sagte: »Dieses Götzenbild stellt einen Menschen dar. Er verkörpert eine bestimmte Fähigkeit, die man nutzbringend anwenden kann.«
»Mag sein«, antwortete der Nour-Anbeter, »aber nur wenige können in das wahre Geheimnis eindringen.« »Ich spreche wegen der wenigen, die verstehen werden, nicht aber für die, die sich weigern, bestimmten Tatsachen ins Auge zu sehen«, sagt der dritte Schüler.
»Eine abscheuliche Ketzerei«, murrte da der Priester, »noch dazu von einem Manne, der nicht einmal unsere Sprache richtig sprechen kann, geschweige denn ein geweihter Priester unseres Glaubens ist.« So konnte auch dieser Schüler nichts für den Fortschritt tun.
Die kleine Schar setzte ihre Reise fort und kam in das Land des vierten Stammes. Nun trat ein vierter Schüler vor das versammelte Volk: »Die Legende vom Feuermachen ist wahr, und ich weiß, wie man es machen kann«, sagte er. Da brach Verwirrung aus, und das Volk teilte sich in mehrere Parteien. Einige sagten: »Vielleicht ist‘s wahr, und wenn es wirklich stimmt, möchten wir herausfinden, wie man Feuer macht.« Als der Meister und seine Schüler nun eingehender mit diesen Leuten sprachen, stellte sich jedoch heraus, dass die meisten Angst hatten, das Feuer auch zu ihrem persönlichen Nutzen zu gebrauchen; sie verstanden nicht, dass es dem menschlichen Fortschritt diente. So tief waren bei den meisten die verzerrten Legenden ins Gemüt eingedrungen, dass oft gerade jene Menschen, die meinten, sich tatsächlich der Wahrheit annähern zu können, ein gestörtes Gleichgewicht hatten. Sie hätten daher selbst dann kein Feuer entzünden können, wenn man es sie gelehrt hätte.
Dann gab es noch eine andere Partei, die sagte: »Selbstverständlich sind die Legenden nicht wahr. Dieser Mann will uns zum Narren halten, um sich bei uns einzunisten.«
Und wieder eine andere Partei sagte: »Wir wollen die Legenden genauso wie sie sind, denn sie halten unsere Gemeinschaft zusammen. Wenn wir sie aufgeben, und sich dann herausstellt, dass diese neue Auffassung nichts taugt, was würde dann aus unserem Volke?«
Und es gab noch mehr Meinungen dieser oder anderer Art.
So reiste die kleine Schar denn weiter und erreichte das Gebiet des fünften Volkes, bei dem das Feuermachen zum gewöhnlichen Alltag gehörte und wo sie sich anderen Vorurteilen gegenübergestellt sahen.
Der Meister sagte zu seinen Schülern: »Ihr müsst lernen, wie man lehrt, denn der Mensch möchte gar nicht belehrt werden. Zuerst müsst ihr die Menschen lehren zu lernen. Und zwar müsst ihr sie lehren, dass es überhaupt etwas gibt, was man lernen sollte. Sie bilden sich ein, dass sie zum Lernen bereit sind. Aber sie wollen das lernen, von dem sie meinen, dass es gelernt werden müsse, nicht aber das, was sie tatsächlich als erstes lernen müssen. Wenn ihr, meine Schüler, all dies gelernt habt, dann könnt ihr Weg und Weise ersinnen, um zu lehren. Wissen, ohne die besondere Fähigkeit zu lehren, ist nicht dasselbe wie Wissen und diese Fähigkeit.«

Quellenhinweise: Die Texte 1 bis 3 wurden entnommen: Nossrat Peseschkian, Der Kaufmann und der Papagei, Orientalische Geschichten in der Positiven Psychotherapie, Fischer TB, 24. Aufl. 2000; Text 4 bis 8 stammen aus: Öser D. Bünker, Die Güte des Meisters wiegt mehr als ein Berg, Weisheitsgeschichten, Herder - Spektrum, 1998; Text 9 ist nachzulesen bei: Walter Kukula, Nasreddin der Schelm, Wien 1959; und zu den Texten 10 und 11 vgl.: Idries Shah, Das Geheimnis der Derwische, Freiburg, 1982.