› Der vierte Weise - Die Geschichte einer Suche (Schluss)

Dann trat im Reich der Träume wieder Stille ein, und ich begriff, dass unter dem tiefen, geheimnisvollen Schweigen Artabans Jahre rasch dahinflogen. Hier und da erhaschte ich einen Blick auf den Fluss seines Lebens, der durch die verhüllenden Schatten blinkte.
Ich sah ihn umherwandeln unter den Massen im volkreichen Ägypten, überall auf der Suche nach der Familie, die von Bethlehem herabgekommen war. Er fand Spuren unter den ausladenden Sykomoren von Heliopolis und unter den Mauern der römischen Festung Neu-Babylon am Nil. Doch sie waren so schwach und verschwommen, dass sie sich ständig vor ihm auflösten, wie Fußtritte im harten Flußsand einen Augenblick feucht aufgleissen und dann verschwinden.
Ich sah ihn wieder am Fuß der Pyramiden, der Denkmäler des vergänglichen Ruhms und der unvergänglichen Hoffnung der Menschen. Artaban blickte auf das breitflächige Antlitz der kauernden Sphinx und mühte sich, die Bedeutung dieses unergründlichen Lächelns zu entschlüsseln. War es tatsächlich nur Spott über alles Trachten und Streben - der grausame Scherz eines Rätsels, das keine Antwort kennt, einer Suche, die nie zum Ziel führt? Oder lag darin eine Spur von Ermutigung - eine Verheißung, dass selbst die Besiegten noch triumphieren, die Blinden sehen und die Unsteten endlich eine Zuflucht finden sollen?
Ich sah ihn wieder in einem unscheinbaren Haus in Alexandria, wo er bei einem Rabbi Rat suchte. Der ehrwürdige Mann, über die Pergamentrollen gebeugt, las laut die Prophezeiungen, die das Leiden des verheißenen Messias vorhersagten - eines gepeinigten Gottesknechtes, verachtet und verschmäht von den Menschen. »Und bedenke, mein Sohn«, sagte er, die tiefliegenden Augen fest auf Artaban gerichtet, »der König, den du suchst, ist nicht in einem Palast zu finden in irdischem Glanz. Das Licht, auf das die Welt wartet, ist ein neues Licht: die Herrlichkeit, die erwachsen wird aus geduldigem, siegreich bestandenem Leiden. Und das Königreich ist ein neues Reich, die Herrschaft der vollkommenen, unüberwindlichen Liebe. Ich weiß nicht, wie dies geschehen wird, und ich weiß nicht, wie die eigensüchtigen, zerstrittenen Herrscher und Völker der Erde dazu gebracht werden sollen, den Messias anzuerkennen. Doch soviel weiß ich: Wer ihn sucht, wird gut daran tun, zu suchen unter den Armen und Niedrigen, den Mühseligen und Beladenen.«
So sah ich den vierten Weisen wieder und wieder, reisend und suchend unter den Menschen in der Zerstreuung, bei denen die Familie aus Bethlehem ein Unterkommen gefunden haben mochte. Er durchwanderte Zonen, wo Hungersnot schwer auf dem Land lastete und die Armen nach Brot schrien. Er weilte in verpesteten Städten, wo die Kranken im Elend dahinsiechten. Er besuchte die Bedrängten in der Nacht unterirdischer Kerker, im Elendsgedränge der Sklavenmärkte, in der lastenden Fron der Galeeren. In dieser ganzen übervölkerten Leidenswelt fand er zwar niemanden, den er hätte anbeten können, aber viele, denen geholfen werden musste. Er speiste die Hungernden, heilte die Kranken und tröstete die Gefangenen; und seine Jahre flogen schneller vorüber als das Schiffchen, das durch den Webstuhl schießt, während das unsichtbare Muster sich vollendet.

Fast schien es, als habe er seine Suche vergessen. Doch einmal sah ich ihn einen Augenblick, wie er bei Sonnenaufgang allein vor dem Tor eines römischen Gefängnisses wartete. Aus dem Versteck an seiner Brust hatte er die Perle gezogen, das letzte seiner Kleinode. Während er sie betrachtete, lief über das Rund ein milderer Glanz, ein weiches Farbenspiel von Azur und Rosenrot. Es war, als hätte sie einen Widerschein der verlorenen Steine, des Saphirs und des Rubins, an sich gezogen - wie zum tiefen, geheimen Sinn eines würdigen Lebens die Erinnerung an vergangene Freuden und Leiden gehört, durch einen stillen Zauber umgeschmolzen in ihr innerstes Wesen. Um so leuchtender und kostbarer wird das Kleinod, je länger es an der Wärme des schlagenden Herzens getragen wird.
Da endlich, als ich über die Perle und ihre Bedeutung nachsann, hörte ich das Ende der Geschichte vom vierten Weisen.
Dreiunddreissig Jahre von Artabans Leben waren inzwischen vergangen und sein Haar, einst dunkler als die Schroffen des Zagros, war jetzt weiß wie der Winterschnee. Sein Blick, einst blitzend wie Feuerflammen, war nur noch schwelende Aschenglut. Matt und müde und bereit zu sterben, doch noch immer ein Pilger auf der Suche nach dem König, war er ein letztesmal nach Jerusalem gekommen. Oft hatte er schon die heilige Stadt besucht und in all ihren Gassen, überfüllten Hütten und Kerkern geforscht, ohne eine Spur der Familie zu finden, die vor langer Zeit aus Bethlehem geflüchtet war. Doch jetzt hatte er das Gefühl, er müsse noch einen letzten Versuch machen.
Die Kinder Israel, verstreut über ferne Länder in aller Welt, waren am großen Passahfest zum Tempel zurückgekehrt. Die Stadt wimmelte von Fremden, und an diesem Tag herrschte eine besondere Gespanntheit. Der Himmel war verhüllt von unheilschwangerer Düsternis, und in der Menge vibrierte die Erregung. Das Geklapper der Sandalen und das leise, weiche Geräusch von Tausenden über die Steine schleifenden Füße zog sich unaufhörlich die Straße zum Damaskustor entlang. Als Artaban eine Gruppe parthischer Juden aus seiner Heimat erblickte, fragte er, wohin sie gingen.
»Zu dem Ort vor den Stadtmauern, der Golgatha heißt«, antworteten sie. »Hast du noch nicht davon gehört? Zwei berüchtigte Räuber sollen gekreuzigt werden und mit ihnen ein Mann, der Jesus von Nazareth heißt, der viele wunderbare Dinge unter den Menschen getan hat. Aber die Priester und Ältesten sagen, er muss sterben, weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat. Und Pilatus läßt ihn kreuzigen, weil er gesagt haben soll, er sei der König der Juden.«
Wie seltsam berührten diese vertrauten Worte das matte Herz Artabans! Ein Leben lang hatten sie ihn über Land und See geführt. Konnte dies derselbe Mann sein, bei dessen Geburt der Stern am Himmel erschienen war und von dessen Kommen die Propheten geredet haben?
»Die Wege Gottes sind seltsamer als die Gedanken der Menschen«, sagte er sich. »Mag sein, dass ich endlich den König finde, wenngleich in der Hand seiner Feinde. Vielleicht komme ich zur rechten Zeit, um meine Perle als Lösegeld anzubieten, bevor er stirbt.«
So folgte der alte Mann der Menge zum Damaskustor. Gleich hinter dem Eingang des Wachhauses kam ein Trupp mazedonischer Soldaten die Straße herab, die ein junges Mädchen in zerrissenen Kleidern mit sich schleiften.
Als der Magier stehenblieb, erblickte sie seine weiße Kappe und den Flügelkreis auf seiner Brust und riss sich eilig von ihren Peinigern los, um sich zu seinen Füßen zu werfen und seine Knie zu umklammern.
»Habt Erbarmen«, rief sie, »und rettet mich um des Gottes der Reinheit willen! Mein Vater war ein Kaufmann aus Parthien, aber er ist gestorben, und mich hat man für seine Schulden verhaftet, damit ich als Sklavin verkauft werde. Rettet mich!«
Artaban zitterte. Da war er wieder, der alte Zwiespalt in seiner Seele zwischen der Erwartung des Glaubens und dem Impuls der Liebe. Zweimal war ihm die Gabe, die er dem Glauben zugedacht hatte, von der Menschlichkeit aus der Hand gewunden worden. Einmal im Palmenhain in Babylon und das zweite Mal in der Hütte in Bethlehem. Dies war die dritte Prüfung, die letzte große Entscheidung. War es die große Gelegenheit oder seine letzte Anfechtung? Er war sich unschlüssig. Nur eins war sicher: Dem hilflosen Mädchen zu helfen würde eine wahre Tat der Liebe sein. Und ist nicht die Liebe das Licht der Seele?
Er zog die Perle aus seinem Gewand. Noch nie war sie ihm so leuchtend erschienen. Er legte sie in die Hand der jungen Sklavin. »Hier ist dein Lösegeld, meine Tochter - der letzte der Schätze, die ich für den König aufbewahrt hatte.«
Während er sprach, verdichtete sich die Finsternis, und zitternde Stöße liefen liefen durch den Grund. Die Erde hob sich krampfhaft wie die Brust eines Menschen, der mit tiefem Schmerz ringt. Hauswände gerieten ins Schwanken, Steine prasselten aufs Pflaster, Staubwolken füllten die Luft. Die Soldaten flüchteten voll Entsetzen. Artaban und das Mädchen, das er freigekauft hatte, kauerten hilflos an der Mauer des Wachhauses.
Was hatte er zu fürchten, wofür sollte er noch leben? Seine letzte Hoffnung, den König zu finden, war dahin. Die Suche war vorüber, und sie war gescheitert. Doch selbst in diesem Gedanken, an den er sich gewöhnen, mit dem er sich befreunden musste, lag Friede. Es war keine Resignation. Er wusste, dass alles gut war, weil er von Tag zu Tag nach Kräften sein Bestes getan hatte. Er war dem Licht treu geblieben, das ihm erschienen war. Er hatte nach mehr gesucht. Und wenn er es nicht gefunden hatte wenn am Ende nur ein Scheitern blieb, dann war das gewiss das Bestmögliche. Hätte er sein Leben noch einmal leben können, er hätte nicht anders gehandelt.

Noch ein letztes Nachbeben der Erde, und ein schwerer Ziegel, der sich auf dem Dach gelockert hatte, fiel herab und traf den alten Mann an der Schläfe. Das graue Haupt lag an der Schulter des Mädchens, und aus der Wunde sickerte Blut. Als sie sich, um sein Leben bangend, über ihn beugte, klang durch das Dämmerlicht eine Stimme wie ferne Musik, bei der die Töne klar und nur die Worte nicht zu verstehen sind.
Die Lippen des alten Mannes bewegten sich, als antwortete er, und das Mädchen hörte ihn auf persisch sagen: »Aber nein, Herr. Denn wann habe ich dich hungrig gesehen und habe dich gespeist? Oder durstig und habe dich getränkt? Oder wann habe ich die krank oder gefangen gesehen und bin zu dir gekommen? Dreiunddreißig Jahre habe ich dich gesucht; aber nie habe ich dein Angesicht gesehen oder dir beigestanden, mein König.«
Er verstummte, und die süße Stimme ertönte wieder, sehr schwach und weit entfernt. Aber jetzt war dem Mädchen, als verstünde es die Worte: »Wahrlich, ich sage dir: Was du getan hast einem unter diesen meinen geringsten Brüder, das hast du mir getan.«
Ein stilles Strahlen erstaunter Freude erhellte das bleiche Gesicht Artabans gleich dem ersten Strahl der Morgenröte. Ein letzter langer, erleichterter Atemzug entrang sich sacht seinen Lippen. Seine Reise war zu Ende. Seine Schätze waren angenommen. Der vierte Weise hatte den König gefunden.

Henry Van Dyke (1852 - 1933)

(Zum ersten Mal entfaltete diese Erzählung ihren melodischen Zauber 1892, als sie beim Weihnachtsgottesdienst in einer presbytanischen Kirche in New York vorgelesen wurde. Seither ist sie in viele Sprachen übersetzt, um die ganze Welt gegangen. Millionen haben sich beflügeln lassen von ihrer Botschaft des Glaubensmutes - und von dem Gedanken: Es gibt ein Scheitern, das ist besser als jeder Erfolg.)

Quelle: www.weihnachtsstadt.de

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